Archäologie im Hauptstraßenzug
Mosaiksteine zur Stadtgeschichte
Sabine Sauer und Karin Striewe
Im Jahr 2008 wurden in der Neusser Innenstadt der alte Hauptkanal unter Oberstraße, Büchel und Niederstraße saniert und sämtliche Hausanschlüsse erneuert. Zwischen Januar und Oktober fanden parallel zu den Bauarbeiten archäologische Untersuchungen statt. Diese wurden in der Regel baubegleitend und damit unter Zeitdruck durchgeführt. Insgesamt konnten über 80 archäologisch relevante Befunde dokumentiert werden, die wertvolle Mosaiksteine zur Besiedlungsgeschichte von Neuss lieferten. Im Bereich des Niedertores konnte mit einem zeitlichen Vorlauf von zwei Wochen vor der eigentlichen Kanalverlegung eine planmäßige archäologische Untersuchung stattfinden.
Das Niedertor
Das Niedertor, am Nordende des mittelalterlichen Hauptstrassenzuges gelegen, war die erste Neusser Toranlage, die niedergelegt wurde. Bereits im Jahr 1812 wurde das Tor abgerissen und durch eine eiserne Pforte ersetzt, um die Ausfallstraße nach Norden zu verbreitern. Das Niedertor zeigte von allen Toren den schlechtesten Erhaltungszustand, denn es war bereits im truchseßischen Krieg 1586 zusammen mit weiten Teilen der Nordflanke der Stadtbefestigung mit Kanonen zerschossen worden. Spätere Ausbesserungsarbeiten erfolgten nur notdürftig.
Kupferstich von Braun und Hogenberg von 1586 (koloriert)
Bereits 1880 hatte Constantin Koenen beim Bau der ersten Wasserleitung archäologische Beobachtungen im Bereich des Niedertores machen können: Stadtseitig traf er auf einen quadratischen Tuffturm mit Gussmauerwerk von knapp 4 m Kantenlänge. Dieser Turm dürfte analog zu einem Turmbefund am Hamtor in die älteste Steinbauphase der Stadtmauer in die Zeit um 1200 datieren.
Auf dem Kupferstich von Braun und Hogenberg aus dem Jahr 1586 ist dieser Turm noch dargestellt; er flankiert an der östlichen Seite die Toranlage des 13. Jahrhunderts. Diesen Torausbau, der unter dem Kölner Erzbischof Konrad von Hochstaden erfolgte, konnte Koenen ebenfalls schon beobachten. In der Mitte des Walls traf er auf 2 m breite Basaltfundamente.
Eine Tuffmauer am Rande des Stadtgrabens war bereits zerstört. Stadtauswärts, jenseits des Erftgrabens, konnte Koenen zwei weitere Feldbrandziegelmauern beobachten. Sie datieren vermutlich in das 14./15. Jahrhundert und gehörten zur Hamei, dem Vorwerk des Niedertores.
Fundament der Nordostecke des Niedertores
Bei den Untersuchungen im Jahr 2008 wurde die Nordostecke des Tores aus dem 13. Jahrhundert freigelegt. Diese Ecke liegt in Verlängerung des äußeren Mauerrings zwischen den Häusern Niederstraße 2 und 4. Im Keller des Hauses Niedertor (Nr.2) ist der äußere Mauerring der Stadtbefestigung aus dem 14. Jahrhundert noch erhalten.
Das nun angetroffene Eckfundament des Tores bestand aus wechselnden Lagen von Basalten und Tuffen in Mörtelbindung und entspricht dem typischen staufischen Mauerwerk, das zur Mitte des 13. Jahrhunderts durch die Bautrupps des Kölner Erzbischofs Konrad von Hochstaden in Neuss seine Anwendung fand. Zu beiden Seiten des Fundamentes zeichnete sich eine Baugrube ab. Zur Feldseite hin konnte ein bislang unbekannter Graben beobachtet werden. Dieser zeigte auf der Sohle eine tonige Auskleidung. Leider war er fundleer und daher nicht direkt zu datieren.
Ostprofil des Niedertores in der Baugrube
Basaltfundament der Nordostecke des Niedertores mit vorgelagertem Stadtgraben
Durch die Dokumentation des Gesamtprofils ließ sich der Graben aber zeitlich einordnen. Es zeigte sich, dass der Graben von der Baugrube der Torecke geschnitten und überlagert wurde. Damit ergibt sich für den Graben ein terminus ante quem. Das bedeutet, dass der Graben älter ist als das Basalttufffundament der Toranlage des 13. Jahrhunderts und lässt darauf schließen, dass er bereits beim Bau der ersten Steinbauphase, also zur Zeit des quadratischen Tuffturms, angelegt wurde. Dies ist eine neue Erkenntnis.
Im gegenüberliegenden Baugrubenprofil, also im Bereich der Westflanke der Toranlage, wurde auf weiten Strecken nur der alte Abwasserkanal aus der Zeit von 1880 angetroffen. Nur vor dem Haus Nr. 5 konnten noch Fundamente der westlichen Torwange des Niedertores ausgemacht werden. Die Fundamente waren an der Torinnenseite durch Leitungsgräben bereits beschädigt.
Fundamente der Westflanke des Niedertores
An der Außenseite bestand das Fundament aus äußerst sorgfältig gesetzten Säulenbasalten. Das Mauerwerk war wohl ursprünglich 1 m dick und reichte bis 1,9 m unter die heutige Oberfläche. Das Niedertor war somit weitaus weniger aufwendig fundamentiert als das Hamtor, dessen Fundamente mehr als 3,6 m in die Tiefe reichten.
Auf der Sohle der Baugrube des Niedertores konnte ein in nördlicher Richtung abgehender, rund 60 cm hoher Kanal aus Feldbrandziegeln beobachtet werden. Dieser Kanal stieß wenige Meter weiter im rechten Winkel auf den vermauerten Erftmühlengraben, der auf einer Länge von 17 m die Niederstraße quert. Der 2,2 m hohe spitzbogige Kanal ist aus zwei Schalen gemauert. Die ältere, äußere Schale besteht überwiegend aus Basalten. Dieser Kanal ist im späten Mittelalter, wahrscheinlich bereits bei Ausbau des Tores zurzeit Konrad von Hochstadens entstanden und kanalisierte den Zufluss zur Niedertormühle.
Niedertor (hellgrau und dunkelgrau), Graben aus der Zeit um 1200 (mittelgrau) und vermauerter Erftmühlengraben (dunkelgrau) in der Übersicht
Ein hochmittelalterlicher Abwasserkanal unter dem Büchel
Am Büchel, gegenüber dem Haus Nummer 20, wurde im Bereich der Einmündung der Vogteigasse ein Abwasserkanal aus dem 13. Jahrhundert freigelegt. Dieser zählt zu den ältesten Zeugnissen einer planmäßigen Abwasserentsorgung im Rheinland. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts begnügte man sich in den rheinischen Städten in der Regel mit einem Abfall- und Fäkalienschacht im Garten, der sich pikanterweise oft nur wenige Meter von dem Brunnen befand, aus dem man das Trinkwasser schöpfte.
Der Abwasserkanal in Zeichnung und Befund
Der nun entdeckte Abwasserkanal querte am Büchel, im Mittelalter sub monticulo genannt, in West-Ostrichtung den Hauptstrassenzug. Der archäologische Befund konnte 60 cm unter der heutigen Straßenoberfläche im Bereich der Einmündung der Vogteigasse auf einer Länge von rund sechs Metern untersucht werden. Der Kanal bestand aus einem echten Tuffgewölbe von ca. 0,50 m Außenhöhe und ca. 0,35 m lichter Innenhöhe Die äußere Breite auf der Höhe der Kanalsohle betrug ca. 0,65 m, der Innendurchmesser ca. 0,40 m. Die Tuffsteine, Bruchstücke aus langrechteckigen Ziegeln, die vielleicht römischen Ursprungs sind, waren in Mörtelbindung gesetzt und der Scheitelbogen von außen mit einer zusätzlichen ca. 3 cm starken Mörtelschicht überzogen. Die Kanalsohle war aufwendig mit ca. 60 cm langen, 40 cm breiten und ca. 3 cm starken Schieferplatten ausgekleidet. Diese waren stellenweise gebrochen und hatten sich leicht angehoben. Unter dem Kanal fand sich eine Stickung aus Kieselsteinen, aus der eine Scherbe Pingsdorfer Machart geborgen werden konnte.
In den Kanal war eine ca. 30 cm starke, humose Schuttschicht eingespült, die bei der Aufdeckung noch einen Fäkaliengeruch absonderte. In der Schuttschicht fanden sich zahlreiche Keramikscherben Siegburger Art und ein Glas des 15. Jahrhunderts. Der Kanal war somit rund 200 Jahre in Benutzung gewesen.
Funde des 15. Jahrhunderts aus dem Abwasserkanal
In östliche Richtung, zur Stiftsimmunität hin, wies der Kanal ein Gefälle auf. Er durchquerte die Immunität und mündete vermutlich in den Rhein.
Projiziert man den Verlauf des Kanals in die westliche Richtung, so trifft er auf die nördliche Hausecke des Gebäudes Büchel 20. Heute steht hier ein repräsentativer, palazzoähnlicher Bau, der im Jahr 1850 vom Apotheker Ludwig Sels errichtet worden war. Im Mittelalter stand auf dieser Parzelle das in vielen Urkunden erwähnte Haus zum Falkenstein, das 1372 erstmals genannt wird. Es existiert auch ein urkundlicher Bezug zu unserem Kanal: Im Jahr 1407 gestatten die Nachbarn den damaligen Eigentümern Reinhart und Jacob von Gohr den „Wasserfall“ am Haus zu überbauen. Haus Falkenstein war das größte Haus am mittelalterlichen Hauptstraßenzug.
Noch heute ist unter dem Gebäude ein sechs Meter tiefer, doppelstöckiger Keller aus Basalten und Tuffen erhalten, der sicherlich bereits im frühen 13. Jahrhundert errichtet worden ist. Dieser hat mit einer Abmessung von 12 x 12,5 m die doppelte Größe der sonst in Neuss üblichen Keller. Zur hervorragenden Stellung des Hauses Falkenstein passt der nun angetroffene Befund. Die Wohnstätte der im Neusser Umland reich begüterten, meist adeligen Familien verfügte mit dem gemauerten Abwasserkanal über eine zivilisatorische Neuerung, die in Neuss sonst höchstens bei Klöstern vermutet werden kann. Vereinzelte Hinweise auf Kanalsysteme, die der modernen Kanalisation von 1881 vorausgingen, stammen überwiegend aus dem Bereich der Stiftsimmunität. So konnte unmittelbar vor dem Südportal von St. Quirin ein Ziegelschacht mit zwei in südlicher und östlicher Richtung abgehenden, 70 cm hohen Kanälen angetroffen werden. Ein aus Feldbrandziegeln und Tuffen gemauerter Kanal am Ostrand des Freithofes hatte sogar eine Scheitelhöhe von 1,6 m. Er mündete unterhalb des Zeughauses in den im Mittelalter noch unmittelbar vor dem Mauerring vorbei fließenden Rhein. Diese alten Kanäle bieten Anlass für vielfältige Spekulationen.
In schöner Regelmäßigkeit wird von alt eingesessenen Neussern über unterirdische „Gänge“ berichtet, die vorzugsweise Klöster oder St. Quirin untereinander verbinden sollen. Volkstümlich werden diese „Gänge“ als Fluchttunnel oder geheime Wege gedeutet. Tatsächlich fällt auf, dass solche Erzählungen häufig in der Nähe von Klöstern, wie am Zeughaus, dem alten Observantenkloster, bei der Gaststätte Dom an der Michaelstraße neben dem Klarissenkloster, oder in der Gaststätte „Anker“ in der Stiftsimmunität angesiedelt sind.
Archäologisch lassen sich diese „Gänge“ auf folgende Weise erklären: Offensichtlich begann man schon im 14./15. Jahrhundert in der mittelalterlichen Stadt unter der Regie von St. Quirin und diverser Klöster ein Abwassersystem aufzubauen, das in die Stadtgräben und den Rhein entwässerte. Die Kanäle verteilten sich strahlenförmig vom höchsten Punkt der Stadt, von St. Quirin aus in alle Richtungen und erschlossen auf ihrem Weg in die tiefer gelegenen Stadtgräben oder den Rhein auch die anliegenden Klöster. So ist es nicht verwunderlich, dass durch die Beobachtungen von Bodenaufschlüssen bei der Neusser Bevölkerung im Laufe des letzten Jahrhunderts die Vorstellung entstand, dass alle „Gänge“ nach St. Quirin führen.
Ob der Kanal von Haus Falkenstein an ein frühes Kanalsystem des Damenstiftes von St. Quirin angeschlossen war, oder als ein einzigartiger profaner Vorläufer der Neusser Kanalisation zu werten ist, lässt sich bislang leider nicht beantworten. Der Befund konnte im Boden erhalten werden.
Eine Zisterne des Klarissenklosters
Ein weiterer Befund, der Rückschlüsse auf eine besondere Art der Ableitung von Wasser zulässt, konnte an der Oberstraße vor dem Haus 106 gemacht werden. Hier wurde quer zur Oberstraße ein 70 cm breiter Kanal festgestellt, der in einer runden, überkuppelten Zisterne mündete. Während die Kuppel rein aus Feldbrandziegeln gemauert war, ließen sich im Mauerwerk der Zisterne auch Basalte ausmachen. Der runde Schacht war damit nicht als neuzeitliches Kanalbauwerk zu deuten und bedurfte einer anderen Interpretation.
Zisterne des Klarissenklosters im Befund und Zeichnung
Ausschnitt aus dem Kupferstich von Braun und Hogenberg von 1586 (koloriert) mit einem Brunnen vor dem Kreuzgang des Klarissenklosters an der Oberstraße
Auf dem Kupferstich von Braun und Hogenberg von 1586 ist an dieser Stelle vor dem Klarissenkloster ein Brunnen oder eine Zisterne dargestellt. Dieser Schacht dürfte bereits im Spätmittelalter bestanden haben und wird 1716, als der Kreuzgang des Klarissenklosters neu aufgeführt wurde, erneuert worden sein.
In ihn entwässerten die Dachflächen des Kreuzgangs. Die Zisterne wird als öffentliche Schöpfstelle gedient haben.
Die römische Straße
Zisterne des Klarissenklosters im Befund und Zeichnung
Plan der römischen Zivilsiedlung von Neuss
Die Ursprünge von Neuss sind eng mit der römischen Fernstraße, die von Köln bis zur Nordsee führte, verbunden. Sicher schon seit vorgeschichtlicher Zeit existierte hier auf dem linken Rheinufer eine uralte Handelsstraße, die zum Beginn der römischen Okkupation neu trassiert und befestigt wurde. Die römischen Fernstraßen erreichten außerhalb geschlossener Ortschaften eine Breite von bis zu 16 m. Sie waren in Niedergermanien aus Kiespacklagen aufgebaut und hatten eine gewölbte Oberfläche, so dass das Regenwasser in die seitlich flankierenden Straßengräben abfließen konnte.
In Neuss entstand im ersten Jahrhundert im Bereich der heutigen Innenstadt ein vicus, eine römische Zivilsiedlung. Diese orientierte sich an der römischen Rheinuferstraße, die die Hauptachse der Ansiedlung bildete.
Beispiel: Römische Straße mit seitlichen Freiflächen im vicus von Güglingen
Innerhalb der römischen Orte nahm der befestigte Straßendamm selten mehr als 5 m Breite ein. Allerdings wurde dieser mit Kies befestigte Bereich seitlich häufig von einem nur mit Stampflehm befestigten Streifen flankiert.
Untersuchungen in süddeutschen vici zeigen häufig Portiken, also gedeckte Laubengänge, oder Verkaufbuden vor der angrenzenden Wohnbebauung. Ähnlich wird auch die Situation im vicus von Neuss gewesen sein.
Lage der römischen Straße (gepunktete Fläche) im heutigen Straßenbild
Nach den neuesten Erkenntnissen verlief der befestigte römische Straßendamm im Neusser vicus weitgehend unter der westlichen Hälfte des heutigen Hauptstraßenzuges. Reste der römischen Straße wurden überwiegend am Büchel vor dem Rathaus angetroffen, da hier die Befunde noch nicht durch einen älteren Kanal gestört waren. An einer Stelle konnte auch ein Querprofil des römischen Straßenkörpers dokumentiert werden. Die einzelnen Auftragsschichten der Straße aus Kies- und Lehmbändern reichten bis 1,7 m unter der heutigen Oberfläche. Über der jüngsten römischen gestampften Kiesoberfläche fand sich ein rund 35 cm dicker mittelalterlicher Auftrag, der neben Kieseln auch zahlreichen Kulturschutt, wie z. B. klein geschlagene Tierknochen enthielt.
Aufbau der römischen Straße vor dem Rathaus in Befund und Zeichnung
Östlich des leider nur in Ausschnitten angetroffenen befestigten Straßenkörpers konnten planierte Kulturschichten des vicus angetroffen werden. Die Straßentrasse verlief im Bereich der historischen Altstadt weitgehend geradlinig; erst auf der Höhe der Kastellstrasse bog die Trasse vermutlich leicht in östlicher Richtung ab und folgte dem Rheinverlauf. Die geradlinige Trasse der Rheinuferstraße bildete den cardo, also die zentrale Vermessungsachse des römischen vicus. Alle Seitenstraßen folgten einem rechtwinkligen Gitternetz, das auf den cardo Bezug nahm. Dieses mathematisch rechtwinklige Straßensystem geht bereits auf Hippodamus von Milet aus dem 5. Jahrhundert vor Christus zurück, der Piraeus mit einem Gittersystem orthogonaler Straßenzüge ausgestattet haben soll.
Dies Vermessungssystem wurde von den Römern vor allem beim Bau der Militärlager kultiviert und auch auf die neu entstandenen Orte der Provinzen übertragen. Der cardo behielt in Neuss auch im frühen und hohen Mittelalter seine Bedeutung: zwischen dem 9. und 12. Jahrhundert wurden auf dem römischen Damm noch neue Straßenkoffer angeschüttet. Ab dem 13. Jahrhundert fehlen die Zeugnisse eines weiteren Straßenaufbaus. Dies mag damit zusammenhängen, dass im 13. Jahrhundert bei der systematischen Parzellierung der angrenzenden Flächen eine verbindliche Höhe für den Straßenkörper festgelegt worden war.
Veränderung des Hauptstrassenzuges
Der Hauptstrassenzug, dessen Trasse in der römischen Rheinuferstrasse verläuft, hat zwischen der römischen Zeit, dem Mittelalter und der Neuzeit sein Erscheinungsbild mehrfach geändert. In römischer Zeit dürfte den römischen Vorlieben und Vermessungsregeln entsprechend der cardo, die Hauptachse der römischen Zivilsiedlung, des vicus eine schnurgerade Ausrichtung genommen haben.
Im Gegensatz dazu zeigen die ersten Urkatasterkarten, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts in französischer Zeit gefertigt wurden, eine räumlich gegliederte Hauptstraße zwischen Obertor und Niedertor.
Im Hauptstraßenzug wechselten breite und schmale Abschnitte. So betrug die Straßenbreite unweit der Einmündung der Rottelsgasse nur rund 8 m, an der Einmündung des Glockhammers weitete sich das Straßenprofil auf 15 m. Dadurch entstand ein spannungsreicher Wechsel der Sichtachsen.
Veränderung der Baufluchten an der Oberstraße auf der Grundlage des Urkatasterplans von 1811. Grau die mittelalterliche Linie, schwarz die heutige Bebauung
Dabei sprang die Bauflucht nicht plötzlich, sondern mit einer leichten Krümmung allmählich zurück, wobei sie in dem kürzeren Abschnitt, dem zwischen Markt und Niedertor, einmal und zwar in der Mitte, in dem längeren, dem zwischen Markt und Obertor, zweimal zurücksprang und so jedes Mal einen Raumabschnitt bildete.
Mit der Begradigung des Verlaufs und der Beseitigung der Engstellen wurde bereits in französischer Zeit begonnen. In den Bauakten der damaligen Zeit finden sich zahlreiche Erlasse, zu den neuen, fast um 10 Fuß zurückgesetzten Baufluchten. So durften an alten Bauten, die nicht in der neuen Fluchtlinie lagen, keine Ausbesserungsarbeiten mehr vorgenommen werden. In besonders dringenden Fällen gab der Magistrat eine Beihilfe zu den Kosten eines Neubaus in der zurückgelegten Fluchtlinie.
Übersichtsplan der während Bauarbeiten aufgefundenen Kellerreste unter der Oberstraße
Im Gegensatz zu den mittelalterlichen, giebelständigen Häusern entstanden nun Gebäude, die mit der Traufe parallel zu Straße angeordnet waren. Die Begradigung der Straße und die Zurückverlegung der Baufluchten wurden in preußischer Zeit fortgeführt. (W. Dickmann, Die bauliche Entwicklung der Stadt Neuß seit dem Ende der kurkölnischen Zeit, Dissertation von 1944). Eine letzte Verbreiterung des Hauptstraßenprofils erfolgte nach dem zweiten Weltkrieg. Die Kriegszerstörungen ausnutzend wurden die Häuser an der Ostseite der Oberstrasse vor der Einmündung zu Markt und an der Niederstraße nördlich des neuen Durchbruchs des Glockhammers, zurückverlegt.
Nun stellt sich die Frage, wann und wie der bis zum Beginn der französischen Zeit überlieferte, reich gegliederte Grundriss des Hauptstraßenzuges entstanden ist. Lange Zeit beherrschte das Bild von der „gewachsenen Stadt“ die mittelalterliche Stadtforschung. Man ging davon aus, dass Straßen und Plätze sich ohne eine ordnende, vorausschauende Planung entwickelten.
Grundriss und Konstruktionslinien von Speyer
Neuere Forschungen an süddeutschen Städten ( K. Humpert, M.Schenk, Entdeckung der mittelalterlichen Stadtplanung, Stuttgart 2001) zeigen jedoch , dass den mittelalterlichen Bauprozessen sehr wohl ein gestalterischer Wille zugrunde lag. Offensichtlich gehörte es unter anderem zu den mittelalterlichen Vorlieben, gerade Strecken durch Bögen zu gliedern und damit aufzuwerten.
Vorreiter für eine derartige Gestaltung der Hauptachse einer Stadt ist Speyer. Dies war die erste große Neuanlage einer Planstadt seit römischer Zeit nördlich der Alpen und begann 1027 durch Kaiser Konrad II mit der Grundsteinlegung des Doms. Die gerade Flucht der dortigen Hauptachse, der Marktstraße (Maximilianstraße) vor dem Domportal, wurde durch die mittelalterlichen Vermesser durch flache, elegante Bogenkonstruktionen gegliedert, die die Sichtachse in Richtung des Doms beidseitig sichelförmig verengten.
Dieses Prinzip der Gliederung durch Bogensegmente wurde von zahlreichen Städten in der Folgezeit übernommen.
Mittelalterlicher Keller unter dem Gehweg der Oberstraße in Befund und Zeichnung
Auch in Neuss kam es offensichtlich im Hauptstraßenzug zur Anwendung. Die planerische Grundkonzeption dafür muss schon in der Frühzeit der mittelalterlichen Stadtentwicklung vorgelegen haben. Denn einige Keller, die auf der Ostseite der Oberstraße vor der Einmündung zum Markt aufgedeckt werden konnten, springen weit aus der heutigen Bauflucht vor und datieren aufgrund des Baumaterials bereits in das 13. Jahrhundert.
Alte Aufnahmen vom Ende des 19. Jahrhunderts zeigen noch die Einschnürung der Oberstraße vor dem Markt. Leider ist im heutigen Stadtbild das mittelalterliche Raumordnungsprinzip, das für die kleinräumige Gliederung der Straßen und Plätze sorgte und dem Betrachter das Gefühl des Beschaulichen vermittelte, verloren gegangen.
Alte Einschnürung und Biegung der Oberstraße vor der Einmündung am Markt.